L1040233_04.jpg

In the middle of nowhere

Author:

Aus aktuellem Anlass ein Bericht von Nora Gummert-Hauser über ihren Besuch bei Jack Usine, der das Fontlabel www.smeltery.net gegründet hat. Jacks Font «Soupirs» wird im neuen SLANTED Magazin vorgestellt.

Nora, vielen Dank!

---

Nach einer halb durchwachten Gewitternacht im Zelt am der französischen Atlantikküste fahre ich nun nach Roquefort. Ich weiß nicht, ob das der Ort ist, wo der Käse herkommt, aber ich weiß, es ist der Ort inmitten der „Landes“ im Südwesten Frankreichs, an welchem ich jetzt gleich den Mann kennen lerne, dessen Arbeiten ich schon seit einiger Zeit beobachte und schätze: Jack Usine.

Vor einer Woche habe ich per Mail den Termin ausgemacht, und ich bin gespannt ob alles klappt. Wir kommen an einem alten Fabrikgelände an, welches von einigen Künstlern zu einer Art Kulturfabrik umgebaut wurde. Hier in Roquefort ist an diesem Wochenende ein Event, an dem er und Fanny Garcia, mit der er unter dem Namen Gusto zusammenarbeitet, teilnehmen. Es ist heiß, Matias Matta, ein Künstler von den Kanaren ist noch dabei sein Graffiti auf der Außenwand, an welcher er über eine Woche gearbeitet hat, zu beenden, und wir gehen los und suche Jack und Fanny. Als ich nach Ihnen frage, stehen sie auch schon direkt vor mir. Ich bin ziemlich verblüfft: So jung hatte ich mir die beiden nicht vorgestellt, bei der Masse an Arbeiten, die ich von beiden schon gesehen habe. Wir wandern ein wenig übers Gelände ... in einem Raum gibt es eine Ausstellung mit grafischen Arbeiten, und ich kann die Plakat-Serie sehen, an der die beiden in 2007, für eine Ausstellung im CAPC in Bordeaux, beteiligt waren. In der großen Halle wird die Musik aufgebaut ... abends soll bis spät in die Nacht noch eine Band spielen, und draußen im Garten des Geländes sind einige Künstler und Grafiker schon damit beschäftigt, die vorgefertigten Kimono-Modelle der Designerin Natacha Sansoz vielfältig zu bearbeiten. Es ist 16 Uhr und noch ist es ziemlich ruhig auf dem Gelände. Wir suchen ein Plätzchen im Schatten um uns zu unterhalten und irgendwo her schleppt Fanny Bänke an, auf die wir uns setzen.

Ich möchte gerne mehr über die beiden und ihre Arbeit erfahren. Und jetzt kommt der Moment, an dem ich meine vorbereiteten Fragen aus meiner Tasche zerre und meine Französischkenntnisse einer harten Prüfung unterzogen werden. Erst hatte ich mir vorgenommen ein Interview zu führen und dieses vielleicht aufzuzeichnen, dann sind wir aber plötzlich auch schon mitten im Gespräch und ich muss konzentriert zuhören, damit mir Wesentliches nicht entgeht ... es käme mir albern vor, jetzt noch das Diktiergerät rauszuholen, welches den Redefluß wieder unterbrochen hätte. Mit Mühen schaffe ich es, mir während des Gesprächs ein paar Notizen zu machen, deshalb ist nun ein kleiner Bericht daraus geworden..

Natürlich frage ich Jack erst das, was wahrscheinlich jeder Idiot zuerst fragt: Ich möchte wissen ob sein Name – Jack Usine – ein Pseudonym ist. Denn ich finde, einen besseren Namen hätte er sich als Nachnamen nicht aussuchen können. USINE ist französisch und bedeutet auf deutsch FABRIK. Die Masse an Arbeiten, die er mit seinen 26 Jahren vorweisen kann, ist unglaublich und es scheint, als fahre er mehrere Schichten pro Tag, um dieses Pensum zu bewältigen. Wenn ich ihn so vor mir sehe und ihn in seiner Ernsthaftigkeit wahrnehme, denke ich schon, dass der Name Programm ist. Wobei er mir dann erklärt, dass dieser Name eigentlich in seiner Herkunft begründet liegt. Jack ist in Lothringen in der Nähe von Metz geboren worden, und obwohl seine Eltern mit ihm bereits nach Bordeaux gezogen sind, als er 6 Jahre alt war, hat er noch eine große Affinität zu dieser Gegend, die geprägt ist von der Schwerindustrie. Während der Semesterferien hat er auch schon mehrere Monate in einer Stahlfabrik gearbeitet. Mit 10 Jahren bereits, beginnt er, angestachelt von seinem fünf Jahre älteren Bruder mit Graffiti. Jacks richtiger Vorname ist Tristan, und ich finde diesen unglaublich passend, denn er hat bei aller Extrovertiertheit seiner Projekte auch etwas extrem Introvertiertes und Leises im Gespräch. Er ist in mindestens zwei Welten zu Hause ...

Wenn man auf seiner Website – www.smeltery.net – stöbert, findet man viele weitergehende Links auf andere Seiten, die auch von seiner Seite aus mit Leben befüllt werden. Und das ist dann schon verblüffend, die Vielzahl der Projekte zu sehen, in denen sich seine Persönlichkeit auslebt. Mich interessiert die Motivation für das alles. Ich frage die beiden was hinter www.sainte-machine.com und www.levilain.org und den vielen anderen Seiten steckt. Fanny Garcia hat, wie auch Jack an der Ecole des Beaux Arts in Bordeaux studiert und 2005 dort diplomiert. Sie erzählt mir, dass es sich bei diesen Projekten letztlich immer um gemeinschaftliche Projekte, zusammen mit anderen Designern, handelt, die eben auch von gesellschaftlichem Nutzen sein sollen. Sie wollen etwas bewegen und suchen die Lücken, um auf sich und ihre Haltung aufmerksam zu machen. Sie organisieren Ausstellungen, sie initiieren Aktionen im öffentlichen Raum, um auf Missstände aufmerksam zu machen, sie entwickeln Ansätze den öffentlichen Raum zusammen mit seinen Bewohnern urban erlebbar zu machen: in Sainte-Foy-La Grande, Fannys Geburtsort in der Nähe von Bordeaux, binden sie die Bewohner in ihre Aktionen mit ein, sammeln deren Erfahrungen in Interviews und publizieren diese. (levilain.org). Ein Anliegen ist es auch die Stadt Bordeaux kulturell wachzurütteln: Das Motto hierfür lautet „Bouger Bordel“ – übersetzt so viel wie „Bordeaux verändern“, wobei der französische Begriff „Bordel“ durchaus ganz bewusst mit beiden Bedeutungen ironisch spielt.

Die Arbeiten von Fanny und Jack quellen nur so über von einem Formen- und Farbenreichtum und einer unglaublichen Vitalität. Ich kann keine Idee irgendeiner Art von „Coolness“ entdecken und die Arbeiten erinnern mich, obwohl formal natürlich anders, an das berühmte französische Kollektiv „Grapus“. Sie strahlen eine Vertrautheit aus, etwas das ich scheinbar zu kennen glaube, sich jedoch bei näherem Hinsehen als originär erweist. 2006 stellte ich an der Arbeit für einen Vortrag die These auf, dass die Zukunft des Grafikdesign sich in vier verschiedene Richtungen bewegt, eine davon benannte ich „Romantisierung“, wozu ich neben der Rückkehr der Fraktur, der Antiqua, der überbordenden Welle weltweit an neuen Script-Schriften, durchaus auch die Wiederauflage der Helvetica und der neuen Sachlichkeit zähle. Speziell die Romantisierung scheint mir eine Gegenbewegung zu sein, um sich in zunehmend instabilen und undurchschaubaren gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen, ein überschaubareres Refugium zu schaffen – eine kleine bessere Welt. Ich frage die beiden, ob sie glauben, dass das auch Teil ihrer Motivation sein könnte. Fanny überlegt und meint, dass sie das für sich schon bejahen könne, die Welt für sich und für andere ein Stück besser machen zu wollen spiele eine Rolle. Und für Jack antwortet sein Plakatmotiv, welches im letzten Jahr im Museum für zeitgenössische Kunst CAPC in Bordeaux zu sehen war: „Ensemble tout devient possible“ – den beiden ist die Sozialromantik die dahinter steckt ganz klar bewusst und sie haben dennoch die Courage, diese Fahne leidenschaftlich, mit all den Widersprüchen die damit verbunden sind, vor sich her zu tragen! Ich frage Jack nach seinen Vorbildern – er zögert kurz, nennt dann Jonathan Barnbrook, Emigre und Pierre di Sciullo, der in der Jury ihrer Diplomarbeiten dabei war. Man sieht Jacks typografischen Arbeiten an, dass sie aus der Hand kommen und dass jahrelange Übung sein handwerkliches Können perfektionierte. Formen und Proportionen fließen stilsicher aufs Papier. Paul Rand sagt in dem Buch „Conversations with students“ den Satz: „ It is important to use your hands, this is what distinguishes you from a cow or a computer operator.“ Jack und Fanny sind sozusagen der lebende Beweis für diese Handlungsanweisung.

Exemplarisch für die Arbeit der beiden ist der Font „Soupirs“ (dt.: Seufzer). Fanny und Jack sind alle Straßen von Bordeaux systematisch abgelaufen und haben 1489 Kellerfenster (frz.: soupirails) aus Metall, die jede ein spezifisches individuelles Muster haben, an den Häusern fotografiert. 310 davon wurden vektorisiert als Zeichen, es entstand begleitend ein Plakat und diese Arbeit wurde in Bordeaux und international wahrgenommen. Ich war fasziniert von dieser individuellen Vielfältigkeit. Es handelt sich hier durchaus nicht nur um irgendeine Art von Sammelwahn, sondern damit erhalten die beiden ein Stück kulturelles Erbe. Individuelle Zeichen, die sonst unbeachtet blieben und doch in ihrer Einzigartigkeit den kulturellen Reichtum spiegeln und sich damit in das historische visuelle Gedächtnis einer Stadt einreihen.

„Le plus grand choix de la region“ – so titelt die Vorderseite einer Visitenkarte, auf deren Rückseite alle Internetadressen gelistet sind, auf denen die beiden sich tummeln. Es handelt sich um ein Foto eines alten Schildes an einer Hauswand ... für was immer dort geworben worden war, jetzt steht es für das Selbstbewusstsein und die große Prise Humor und Ironie, die beide in sich tragen. (Mehr von wunderbaren alten Schildern und Schriftzügen bewahrt und veröffentlicht Jack Usine auf www.vernacular.fr) Die Altstadt von Bordeaux wurde 2007 als UNO Weltkulturerbe anerkannt und in diesem Jahr bewirbt sich Bordeaux – neben Lyon, Toulouse und Marseille als Kulturhauptstadt für 2013. Bleibt zu hoffen, dass sich die Verantwortlichen in Bordeaux der Schätze bewusst werden die bereits innerhalb ihrer Stadt vorhanden sind, und beginnen diese zu pflegen, anzuerkennen und zu unterstützen – Menschen wie Jack und Fanny und viele ihrer Kollegen gehören auch dazu. Und es wäre ein Jammer für die kulturelle Entwicklung dieser Stadt, wenn diese eines Tages den Zug in Richtung Paris oder Berlin nehmen würden.

Wir gehen noch eine Weile übers Gelände, unterhalten uns mit Natacha über ihre Projekte, während Jack und Fanny, im Schatten sitzend überlegen, was sie mit ihrem Kimono-Rohling nun anstellen werden. Als wir die beiden suchen, um uns zu verabschieden, hat Fanny begonnen, einen Marienkäfer mit Kreuzstich auf den Kimono zu sticken. Der Marienkäfer (bei uns schon auch mal „Himmelskind“ genannt) – ein Symbol für Glück und unermüdlichen Fleiß ... möge ihnen ihre kreative Leidenschaft und Vitalität nicht abhanden kommen! Merci et à bientot!

© Text: Nora Gummert-Hauser / © Fotos: Gerd Hauser / August 2008

Publikationen:
Gusto – aus der Reihe „Design+Designer“
Pyramid Verlag
Paris 2008
ISBN: 978-2-35017-124-1

---

Hier gibt es den Text als pdf in englischer und französischer Sprache:
english text
texte en français

L1040233_04.jpg