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PROKRASTINATION

Author:

Die Diplomarbeit "Prokrastination“ (= Erledigungsblockade, Aufschiebeverhalten) von Britta Nitsch ist eine Art "innovatives Selbsthilfebuch". Es ist leserfreundlich gestaltet und motiviert den Leser es zur Hand nehmen. (Nicht es liegen zu lassen, was man normalerweise mit Ratgeberbüchern machen möchte). Das Buch, dessen Namen ich auch erst nachschlagen musste, wurde kürzlich mit dem red dot award ausgezeichnet.

Die Arbeit ist an der FH Münster entstanden. Dies ist bereits die dritte Studienarbeit aus dieser Stadt, die ich in relativ kurzer Zeit vorgestellt habe. Doch: Sie sind auch wirklich gut, wie ich finde und aller guten Dinge sind ja bekanntlich drei. Nun denke ich, wenn ich Münster höre, nicht mehr nur an H-Blockx, sondern auch an gute, aussagekräftige und interessante Gestaltung.

BESCHREIBUNG:
Langsam könnte die Steuererklärung mal gemacht werden. Und die Küche müsste auch mal wieder dringend gereinigt werden. Ach... eine Folge meiner Lieblingsserie geht noch. Aber dann fange ich wirklich an! Sowas kennen Sie sicherlich auch: Das, was einem unangenehm ist, schiebt man vor sich her, bis man es dann im totalen Stress machen muss. Psychologen nennen das Prokrastination. Britta Nitsch vom Fachbereich Design hat ein Buch über dieses Thema gestaltet. Es ist nicht nur gut lesbar und ohne den üblichen therapeutischen Ernst geschrieben.

Wir schieben größere Aufgaben vor uns her, weil wir sie als kompliziert, lästig oder langweilig empfinden. Dabei sind wir uns den persönlichen Nachteilen, die solch ein Verhalten mit sich bringt, durchaus bewusst – und werden dann auch noch von negativen Gefühlen oder Angst geplagt. Die Hürde, endlich anzufangen, wird dadurch noch höher, ein Teufelskreis entsteht, der schon so manchem die Karriere verbaut hat.

Nitsch hat für ihre Diplomarbeit ein Buch gestaltet, dass sich mit diesem leidlichen Thema befasst. „Prokrastination – ein Buch über das Aufschieben von Wichtigem“ befasst sich mit allen Facetten des Phänomens, setzt sich mit seinen Ursachen auseinander und gibt vor allem zahlreiche Ratschläge, wie man ihm beikommen kann.

Nicht nur textlich, auch typografisch mach Nitsch die Prokrastination greifbar. „Den Fließtext habe ich in den Blocksatz gesetzt, allerdings nach rechts verschoben in einem asymetrischen Satzspiegel. Damit wollte ich mit typografischen Mitteln das Vor-Sich-Her-Schieben verdeutlichen“, sagt die Diplomandin. „Außerdem mache ich so den Perfektionismus deutlich, den viele Aufschieber an den Tag legen – schließlich wirkt der Blocksatz akkurat, schnörkellos und gerade“. Die Zitate des Buches hat sie dagegen konsequent in rechtsbündigen Flattersatz gesetzt: „Das sorgt beim Leser ein wenig für Unruhe und vermittelt ihm so genau das Gefühl, dass auch die meisten Aufschieber plagt.“

Den hektischen und zugleich zögerlichen Charakter der meisten Aufschieber verdeutlicht die Diplomandin mit einer leichten Handschrift. Diese dient als Bildunterschrift zu den farblich schlicht gehaltenen Illustration und Grafiken. „Die meisten Bücher zum Thema Prokrastination bestehen fast nur aus purem Text und der ist auch noch humorlos und in einer therapeutischen Sprache geschrieben. Gerade das schreckt doch die Betroffenen davon ab, überhaupt mal mit dem Lesen zu beginnen“, kommentiert Nitsch den Büchermarkt zum Thema.

Sie versteht ihr Buch als einen ausdrücklichen Gegenentwurf zur herkömmlichen Literatur. Gestalterisch fällt es durch ausgesprochene Lesefreundlichkeit auf. Die Leseführung ist einfach und das Format lässt einen das Buch schnell mal in die Hand nehmen.

INTERVIEW:

Was inspiriert Dich?
Jeder & Alles – ich entdecke in einer Seitengasse ein leerstehendes, altes Fleischereifachgeschäft und muss die Überbleibsel der abmontierten Leuchtreklame fotografieren, deren Umrisse man immernoch auf der Backsteinwand entziffern kann. Irgendwann später wird sich dann herausstellen, wozu mich das inspiriert.

Welche Bedeutung hat für Dich Design?
1. Verstehen, organisieren, vereinfachen, verdichten, verbessern.
2. Spieltrieb, Experiment, Erfindung.
3. Design darf dem Volk nicht nur aufs Maul schauen, sondern sollte ihm auch häufiger über selbiges fahren.

Warum hast Du diese Arbeit gemacht? Wie bist Du auf die Idee gekommen? Was steckt dahinter?
Ich stolperte eines Tages über das wohlklingende englische Wort "Procrastination" und musste dann mit Erschrecken feststellen, dass im Deutschen nur fürchterlichgrässliche, wenig klangvolle, schnöde Worte für die Tätigkeit des Aufschiebens von wichtigen Dingen wie z.B. "Aufschieberitis" oder "Aufschiebeverhalten" verwendet werden. Der Einbürgerung dieser gefühlten Unworte in den Sprachgebrauch wollte ich entgegenwirken, deswegen heißt das Buch "Prokrastination" (lat. pro = für, crastinus = dem morgigen Tag zugehörig). Das ist ein wohl klingender und seriöser Name für dieses diffizile, stetig wachsende Gesellschaftsphänomen. Ernsthaft: Es ist ein tolles, vielschichtiges Thema (und im Nachhinein betrachtet bin ich betroffener, als ich dachte ...)

Was möchtest Du mit Deiner Arbeit erreichen bzw. aussagen?
Das heutige Leben ist bestimmt von Freiheit, Vielfalt & Selbstbestimmung. Autor R.D. Precht stellt fest: „Der Selbstbedienungsladen für die Zutaten unseres Lebens ist unüberschaubar geworden.“ Wer heute im Leben scheitert, ist selbst Schuld und nicht die Umstände.
Das Entscheiden wird zur Qual der Wahl. Die Masse der Möglichkeiten verschleiert Prioritäten. Angstfundiertes Vermeidungsverhalten hält uns beschäftigt, aber auch ab von den wichtigen Aufgaben. PROKRASTINATION entschlüsselt das Gesellschaftsphänomen des Aufschiebens. Nach etlichen Filtrations- und Sortierungsdurchgängen der Materie liegt dieses konsequent durchdachte, prägnant bebilderte und leserfreundliche Buch vor: Praller Informationsgehalt gepaart mit ironischem Witz in Wort & Bild - eine effektive Kombination zur Selbsthilfe.

"Leidest" Du selbst an Prokrastination?
Ohja, und ob. Ich musste erst einen gehörigen beruflichen Schlenker durchlaufen, bis ich mich soweit hatte, einen zweiten Anlauf für die Eignungsprüfung zum Grafikdesignstudium zu wagen. Hat dann auch gleich reibungslos geklappt (wenn man das nur vorher schon müsste).
Meine Diplomarbeit wollte ich auch schon längst an diverse Fachzeitschriften geschickt haben – zwecks Veröffentlichung. Das habe ich gekonnt über Wochen und Monate aufgeschoben. Jetzt habe ich für PROKRASTINATION einen reddot bekommen. Vielleicht treibt mich das voran, endlich diese Emails fertig zu machen. Das ist prokrastinatorisch natürlich eher ein Kinkerlitzchen (wobei man jetzt noch nicht einschätzen kann, ob dieses Verhalten nicht doch meiner Karriere schadet ...).

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