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Mi Casa No es Tu Casa

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»Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem fast leeren Restaurant. Obwohl nahezu alle Plätze frei sind, setzt sich eine unbekannte Person auf einen Stuhl direkt neben Ihnen. Das Verhalten der fremden Person wird Sie vermutlich irritieren, vielleicht fühlen Sie sich verärgert oder beängstigt, zumindest aber werden Sie überrascht sein.«

Karsten Petrat von der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg, hat sich in seiner Diplomarbeit »Mi Casa No es Tu Casa!« mit den unterschiedlichen Distanzzonen des Menschen beschäftigt. Ziel seines daraus gestalteten Buches war die Entwicklung von Strategien, um sich vor Eindringlingen in die Intimzone des Menschen zu schützen. Eine wirklich spannende, durchdachte und grafisch fein umgesetzte Arbeit.

Projektbeschreibung

Räumliche Verhaltensweisen werden dann bewusst wahrgenommen, wenn sie nicht reibungslos funktionieren. Der amerikanische Anthropologe Edward T. Hall war ein Pionier bei der Erforschung der Raumbedürfnisse des Menschen. Er prägte den Begriff der »Proxemik«. Der Terminus beschreibt, wie sich ein Mensch im Raum verhält, welchen Platz er für sich beansprucht und in welchem Abstand er sich zu seinen Kommunikationspartnern aufhält. Nach Hall kann man vier Zonen unterscheiden: Die öffentliche Zone, die soziale Zone, die persönliche Zone und die Intimzone.
In der sozialen und persönlichen Zone dulden wir Fremde. Verletzen Eindringlinge dagegen unsere Intimzone, ruft das in unserem Körper physiologische Reaktionen hervor. Das Herz schlägt schneller, es wird Adrenalin ausgeschüttet, und als körperliche Vorbereitung auf einen möglichen Kampf oder auf eine Flucht werden Gehirn und Muskeln besser mit Blut versorgt.

Ziel der Diplomarbeit »Mi Casa no es tu Casa!« ist die Entwicklung von Strategien, um sich vor Eindringlingen in die Intimzone zu schützen.
Dem Leser werden unter anderem Verhaltensweisen näher gebracht, die in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Aufzügen vor übermäßiger Nähe schützen. Ein »SuperSmall-Smalltalk Guide« in Form eines Plakates zeigt, wie man jedes Gespräch zuverlässig in weniger als 10 Sekunden beenden kann. Und aus Beton gegossene Warentrennstäbe an Supermarktkassen sichern durch zusätzliche Zaunspitzen das eigene Territorium.
Als Teil der Diplomarbeit wurde ein Rucksack entwickelt, der über die aktuelle Distanz zu den Mitmenschen informiert. Eine aus dem Autozubehör bekannte »Einpark-Hilfe« wurde zu diesem Zweck technisch modifiziert und in den extra dafür angefertigten Rucksack integriert. Durch jeweils zwei Sensoren vorne und hinten wird der Abstand berechnet und über ein LCD-Display optisch wie akustisch wiedergegeben.

Interview mit Karsten Petrat

–Wer bist du, wo hast du studiert?

Ich heiße Karsten Petrat, bin 28 Jahre alt und habe an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg studiert. Nach jeweils einem Auslandspraktikum in Toronto und New York war ich für ein Gastsemester an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart und habe im Anschluss mein Studium zum Kommunikations-Designer in Nürnberg abgeschlossen.

–Was hat dich auf die Thematik gebracht?

Auf das Forschungsgebiet der »Proxemik« bin ich in einem Buch gestoßen und war sofort von dem Thema begeistert. Es ist erstaunlich, wie präzise interpersonale Distanz im Alltag nach scheinbar ungeschriebenen Gesetzen eingehalten wird. Beobachtet man z.B. Menschen auf Sitzbänken in U-Bahn Stationen, so wird man feststellen, dass sie zu ihren jeweiligen Sitznachbarn rechts und links exakt den gleichen Abstand wahren.
In vielen Alltagssituationen muss man sich mit Eindringlingen in den persönlichen Raum arrangieren. In dichten Menschenmengen zum Beispiel, neigen wir dazu uns gegenseitig eher als physische Objekte statt als Personen zu betrachten und reduzieren automatisch die üblichen nonverbalen Signale auf ein Minimum. In einem Aufzug kann man diese Verhaltensweisen sehr gut beobachten. Gespräche werden eingestellt, und die Fahrgäste schauen mit teilnahmslosem Gesichtsausdruck auf den Boden oder die Stockwerksanzeige.
Diese kleinen »Ausnahmesituationen« in denen der persönliche Raum angegriffen wird und das daraus resultierende Verhalten der Menschen haben mich besonders an der Thematik interessiert.

–Wie hast du dich auf deine Arbeit vorbereitet? Hast du deine Mitmenschen intensiv beobachtet und richtige Verhaltensstudien angefertigt?

Die Lektüre bestehender Fachliteratur stellte die Grundlage meiner Arbeit dar. Hauptaugenmerk lag dabei auf der kleinsten Zone, dem Bereich bis 45cm um eine Person herum, in dem die physiologischen Reaktionen auf Eindringlinge besonders stark ausgeprägt sind. Zum Schutz des persönlichen Raumes vor "Invasoren" habe ich entsprechende Strategien entwickelt. Grundlage für die Strategien waren wiederum die Forschungsergebnisse aus der Proxemik. Ziel der Arbeit war es, über die Schutzmaßnahmen das Raumbedürfnis der Menschen zu verdeutlichen.

–Unterscheiden sich die Deutschen in ihrer Einstellung zur Distanz zu anderen Nationen?

Das Raumbedürfnis von Menschen ist in jeder Kultur sehr unterschiedlich ausgeprägt. Deutsche sind auf eine signifikant größere Distanz zu den Mitmenschen bedacht als z.B. Italiener. Unterschiede im Distanzverhalten verschiedener Kulturen kann das folgende Beispiel recht gut veranschaulichen: Wenn ein Japaner und ein Amerikaner miteinander sprechen, erweckt das den Eindruck als würden sie Walzer tanzen. Der Japaner hat eine kleinere Intimzone und drängt ständig nach vorne, während der Amerikaner als Konsequenz auf die Verletzung seiner eigenen Intimzone ständig zurückweichen muss. Beide Gesprächspartner versuchen dabei eigentlich nur, eine kulturell geprägte, angenehme Distanz herzustellen.

–Wie lange hast du an deiner Arbeit gesessen? Wer hat dich betreut?

Insgesamt hatte ich für die Diplomarbeit 5 Monate Zeit. Zwei-Drittel davon habe ich für Recherche und Konzeption aufgewendet, die übrige Zeit für Gestaltung und die Umsetzung der Objekte. Betreut wurde ich von meinen beiden Professoren Friederike Girst und Holger Felten.

–Deine Arbeit umfasst einen von dir entwickelten sogenannten »Ultraschall-Distanzmesser«. Dein Online-Portfolio lässt unschwer erkennen, dass du dich sehr stark für die dreidimensionale Gestaltung interessierst. In welche Richtung tendierst du in deiner beruflichen Zukunft?

Objekte dreidimensional zu gestalten kann eine ausdrucksstarke Alternative zu Illustration oder Typografie darstellen. Im Idealfall würde ich mir deshalb ein Büro wünschen, in dem ich abhängig von der Aufgabenstellung illustrativ, typografisch oder dreidimensional arbeiten kann.

–Wäre super, wenn du uns zum Schluss noch ein wenig über die Umsetzung berichten könntest. (Druck, Bindung, etc.)

Der Inhalt des Buches ist in acht Kategorien gegliedert und wird durch eine auf das jeweilige Thema bezogene Illustration eingeleitet. Jede Kategorie befasst sich mit einem speziellen Aspekt der Proxemik. Das Emblem und der Schriftzug des Buch-Covers wurden per Siebdruck erstellt. Ebenso das Plakat für den SuperSmall-Smalltalk-Guide (eine interaktive Version befindet sich übrigens auf meiner Website).
In dem Buch selbst gibt es keine Seitenzahlen. Stattdessen erfolgen die Angaben in Zentimetern, gemessen jeweils ab der ersten Seite des Buches.

Vielen Dank für das Interview Karsten!

Mehr Arbeiten von Karsten Petrat gibt es auf seiner Webseite zu sehen.
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